Mögen sich alle Menschen gesehen und
erkannt fühlen.
Mögen alle Menschen in ihrem wahren
Wesen erblühen.
Es war einmal vor langer Zeit
in einem kleinen Dorf am Waldesrand, da wurde einem jungen Paar eine Tochter geboren,
der sie den Namen Tarita gaben. Wie berührt die frisch gebackenen Eltern ob
dieses neugeborenen Wunders waren, wie sehr sie dieses wunderschöne Kind liebten,
wie groß das Glück der Familie war!
Schon wenige Monate später wandte
sich das Schicksal, denn eines Tages kehrte der junge Vater nicht mehr von der
Waldarbeit nach Hause zurück. Tarita verlor ihren Vater ohne die Möglichkeit,
ihn je wirklich kennen zu lernen.
Doch in der warmen Nähe ihrer
Mutter wuchs Tarita zu einem Sonnenschein heran. Die beiden war immer zusammen:
beim Bewirtschaften des kleinen Gemüsegartens, beim Sammeln von Früchten,
Pilzen und Beeren, bei der Hausarbeit, beim Nähen, beim Abrebeln des Lavendels,
beim Holzhacken, beim Einheizen, beim Kochen.
Mutter und Tochter waren
unzertrennlich in ihrem bescheidenen, doch fröhlichen Leben. Tarita lernte
schnell. Sie war ihrer Mutter schon bald eine beträchtliche Hilfe, besonders
wenn diese eine ihrer wundersamen Geschichten erzählte oder aus vollem Herzen sang.
Zu ihrem dritten Geburtstag
bekam Tarita von ihrer Mutter eine selbst genähte Puppe, die mit getrocknetem
Lavendel gefüllt war. Tarita trug ihre neue Freundin immer mit sich, sodass die
Mutter begann, eine spezielle Puppentasche auf die Röcke ihrer Tochter zu
nähen. So konnte Tarita ihre Freundin immer bei sich haben, selbst im Wald und
im Garten.
Als kleines Mädchen bemerkte
Tarita nichts von den Sorgen der Mutter. Diese verbarg sorgfältig ihre schlaflosen
Nächte, in denen sie überlegte, wie sie den Lebensunterhalt für sich und ihre
Tochter verdienen könnte. Es war hart, in diesem kleinen Dorf als Schneiderin
das Nötigste für sich und das Kind zu verdienen.
Eines Tages kam ein
wohlhabender Färber aus der nahegelegenen Stadt ins Dorf. Auf seinen ausgedehnten
Reisen war er immer auf der Suche nach Schneiderinnen, die aus seinen bunt
gefärbten Stoffen die schönsten Kleider nähen konnten, mit denen er am Hofe des
Grafen gutes Geld verdiente.
Er wurde vom Dorfältesten an
Taritas Mutter verwiesen, die für ihre Nähkünste im Dorf bekannt war. Vom
ersten Moment an war der Färber war nicht nur von der Fingerfertigkeit und der
Kreativität der Schneiderin begeistert, sondern auch von ihr selbst. Er
versprach, dass er bald mit einem großen Auftrag zu ihr zurückkehren würde.
Wenige Tage später stand der
Färber tatsächlich wieder vor dem kleinen Häuschen der Schneiderin. Er brachte
zwar keine Stoffe zur Verarbeitung mit, dafür einen Heiratsantrag. Die
Überraschung war groß, doch nach kurzer Bedenkzeit willigte Taritas Mutter ein.
Sie würde mit ihrer Tochter in einem komfortablen Haus in der Stadt wohnen, sie
würde mit ihrer Arbeit erfolgreich sein, sie hätte für sich und ihre Tochter
ausgesorgt. Der Heiratsantrag des Färbers schien die Antwort auf ihre nächtlichen
Gebete zu sein.
Erst als sie verheiratet und
ins Haus des Färbers gezogen war, erkannte Taritas Mutter den wahren Charakter
ihres Ehemannes. Er war tyrannisch und ein Besserwisser, der alles kontrollierte
und alle herumkommandierte. Besonders auf Tarita hatte er es abgesehen. Das
kleine Mädchen schien nichts richtig machen zu können. Sie war ihm ein Dorn im
Auge. Oft herrschte er sie an: "Ach, halt den Mund, für wen hältst du dich
eigentlich?"
Vorbei waren die glücklichen
Zeiten von Taritas Kindheit. Unter dem Einfluss des neuen Ehemannes veränderte
sich auch ihre Mutter, die nur mehr sehr selten sang und wenig Zeit mit ihrer
Tochter verbrachte. Dafür verlangte sie von dem kleinen Mädchen gute Manieren,
wie es sich für ein vornehmes Haus gehörte.
Tarita tat sich mit dieser
Umstellung schwer. Bisher war das Leben so einfach gewesen, voller Lieder und
Lachen. Wieso hatte sich ihre Mutter bloß so verändert? Die Tochter konnte es
nicht verstehen.
Die Menschen rund um sie
herum nahmen nur die schmutzigen Fingernägel wahr, die zerzausten Haare, den
Riss im Kleid, das zu laute Lachen. Niemand sah in ihre Augen und niemand
erkannte die tiefe Seele, die sich dort widerspiegelte.
Sooft es nur ging, floh Tarita
mit ihrer besten Freundin, der Puppe, in den Garten. Am liebsten saßen die beiden
im Apfelbaum und erlebten die aufregendsten Abenteuer in ihrer eigenen Welt.
An einem sonnigen Nachmittag,
als Tarita wieder einmal mit ihrer Puppe im Apfelbaum saß, brach in der Stadt
ein Feuer aus, das die Bürgerinnen und Bürger selbst mit größter Anstrengung
nicht unter Kontrolle bringen konnten.
Tarita war verzweifelt: Was
sollte sie nur tun? An wen konnte sie sich wenden? Mutter und Stiefvater waren auf
einer ihrer ausgedehnten Reisen. Einige Dienstboten halfen beim Löschen des
Feuers, andere hatten vor lauter Angst bereits die Stadt verlassen.
Der Rauch im Garten war so dicht,
dass Tarita kaum noch vom Apfelbaum bis zum Haus sehen konnte. Also umklammerte
sie fest ihre Puppe und begann zu laufen. So schnell ihre Füße nur konnten,
rannte sie vor dem Feuer davon. Der dunkle kühle Wald schien ihr der richtige Ort
zu sein, um sich vor dem grellen heißen Feuer in Sicherheit zu bringen.
Taritas Füßchen liefen und
liefen und liefen, bis das Mädchen vor Erschöpfung auf den weichen Waldboden
fiel und einfach liegen blieb. Stunden später kam die weise Frau des Waldes an
diesen Ort und fand das kleine Mädchen mit der Puppe. Sie trug das Kind zu
ihrem Häuschen am geheimsten Ort des Waldes.
Als Tarita aus dem tiefen
Schlaf erwachte, war sie vor lauter Schock und Schmerz wie versteinert: Sie
konnte sich weder bewegen noch sprechen. Die weise Frau kümmerte sich liebevoll
um das Mädchen. Da sie von dem Kind ohnehin keine Antwort erhalten konnte, verschonte
sie die Kleine mit Fragen über ihre Herkunft und über ihr Auftauchen im Wald.
Die weise Frau wusste viel
über die heimischen Kräuter und ihre Heilwirkungen, so war Tarita in besten
Händen. Bereits nach wenigen Wochen konnte sich das kleine Mädchen wieder wie gewohnt
bewegen. Doch die Sprache hatte es dem Kind weiterhin verschlagen.
Die Jahre vergingen. Tarita
lebte mit der weisen Frau, wie sie früher mit ihrer Mutter zusammen gelebt
hatte. Das Mädchen lernte weiterhin schnell, war geschickt im Sammeln und Verarbeiten
der Kräuter und kümmerte sich um den gemeinsamen Haushalt. Bald erinnerte
nichts mehr an dem Mädchen an ihr früheres Leben, außer die kleine Puppe, die
Tarita weiterhin tagaus tagein bei sich trug.
Es blieb Tarita verborgen,
wie die weise Frau wissen konnte, wann ein Besucher oder eine Besucherin zu
erwarten sei. Regelmäßig kamen Menschen tief in den Wald herein, um bei der
weisen Frau Rat und Medizin zu holen. Niemals empfing die Heilerin die Menschen
in ihrem Häuschen, sondern nur an einem eigens vorbereiteten Platz in sicherer
Entfernung ihres Heimes. Tarita durfte nicht zu den Sitzungen mitkommen, die
weise Frau hatte es strengstens verboten. Dennoch schlich Tarita manchmal heimlich
zu diesem Platz, um wenigstens aus der Ferne zu beobachten, was bei dem
Zusammentreffen mit den fremden Menschen passierte.
Diese geheimen Sitzungen
waren der einzige Kontakt der beiden Frauen mit der Außenwelt. Wie der
Inquisitor dennoch von der Existenz der weisen Frau erfahren hatte, konnte sich
Tarita später nur so zusammenreimen, dass offenbar ein Besucher oder eine
Besucherin den geheimen Treffpunkt verraten hatte.
So kam es, dass bei einer der
Sitzungen, die Tarita heimlich beobachtete, die weise Frau von zwei Männern gefesselt
und abgeführt wurde. Es gelang Tarita, den dreien heimlich zu folgen.
Das Inquisitionsgericht tagte
nur zwei Wegstunden entfernt in einem Dorf. In der Menschenmenge verborgen konnte
Tarita beobachten, wie der weisen Frau kurzer Prozess gemacht wurde: Bei der Untersuchung
ihres Körpers fand man eine dritte Brustwarze, was als untrügliches Zeichen für
ein Hexe galt. Somit war das Schicksal der weisen Frau auch ohne Verhör und
Folter besiegelt.
Noch am selben Abend wurde
für jede verurteilte Hexe der Gegend ein Scheiterhaufen auf dem Dorfplatz entzündet.
In der Menschenmenge stand Tarita fassungslos in der Nähe jenes Pfahles, an dem
die weise Frau angebunden war. Als das Feuer den Körper der Frau erfasste und
der Rauch von verbrennendem Haar zu Tarita herüber zog, schnürte sich ihre
Brust zusammen. Dann bahnte sich ein nie gehörter Schmerzensschrei seinen Weg
durch ihre Kehle, die seit Jahren keinen Ton hervor gebracht hatte.
Taritas Füße begannen vor dem
Feuer davon zu laufen, wie sie es vor langer Zeit bereits getan hatten. Wieder
lief die junge Frau in den Wald, um Zuflucht zu suchen. Sie rannte aus
Leibeskräften, um all die Erinnerung auszulöschen, die sie nicht ertragen
konnte. Sie lief, bis sie vollkommen erschöpft zusammenbrach und am weichen
Waldboden liegen blieb.
Die Leiterin des geheimen
Klosters war auf einem ihrer Streifzüge durch den Wald, um seltene Pilze zu
sammeln, als sie den scheinbar leblosen Körper der jungen Frau fand. Sofort eilte
sie ins Kloster und holte Hilfe: Gemeinsam mit ihren Schwestern brachte sie Tarita
in das schützende Kloster.
Tagelang lag die junge Frau
in der schlichten Krankenzelle des geheimen Klosters, geplagt vom Delirium der
Lungenentzündung. Tarita träumte unentwegt von Feuer, dem sie kaum entkommen
konnte, bis ihr im Fiebertraum ihre bisher unbekannten Großväter erschienen.
Sie sagten: "Wir kennen einen sicheren Ort für dich. Wenn dir ein
herrenloses Pferd begegnet, steige auf und wir führen dich an den Ort, der dein
Platz in der Welt ist."
Durch die Pflege der heiligen
Schwestern erholte sich Tarita schnell von ihrer Krankheit. Als sie wieder
aufstehen konnte, lud sie die Leiterin des Klosters zu einem Gespräch ein. Die
beiden Frauen hatten von Anfang an das Gefühl, sich sehr nahe zu stehen. So saßen
sie bald Abend um Abend beim Kamin und tauschten ihre Lebensgeschichten aus.
Tarita hatte ihre Stimme
wieder gefunden und konnte nun zum ersten Mal all ihren Erlebnissen Worte
schenken. Die Aufmerksamkeit und das Verständnis ihrer neuen Freundin halfen
ihr, Zusammenhänge zu erkennen und Frieden mit ihrer Geschichte zu finden.
Im Gegenzug hörte sie der
anderen Frau zu, als diese erzählte, wie es zur Gründung des geheimen Klosters
gekommen war. Tarita erfuhr, dass die schlaue Äbtissin des größten Klosters der
ganzen Grafschaft einen Weg gefunden hatte, die kräuterkundigen Schwestern vor
den Klauen der Inquisition zu retten: Alle Nonnen, die eine außergewöhnliche
Neigung zur Kräuterkunde hatten, wurden offiziell als verstorben gemeldet und
in einem fingierten Begräbnis auf dem Klosterfriedhof bestattet.
Über die Jahrzehnte hinweg
hatten diese Frauen im Wald eine geheime Außenstelle des Klosters erbaut und
einen wunderbaren Kräutergarten angelegt. Hier konnten sie ihre Kräuterkunst
getrost vertiefen und ausbauen, ohne von der Inquisition bedroht zu werden –
denn offiziell waren sie ja verstorben! Niemand vermisste sie.
Das Kloster der schlauen
Äbtissin hatte bald den Ruf, Menschen durch besonders hingebungsvolle Gebete zu
heilen. Die Kranken wussten nicht, dass sie beim Eintreffen im Kloster einen
Schlaftrunk verabreicht bekamen, mit dessen Hilfe sie in einen 12 Stunden
währenden tiefen Schlaf sanken. In dieser Zeit wurden sie heimlich in die Außenstelle
transportiert und wachten dort in einem Krankenzimmer auf. Sie durften dieses
Zimmer nicht verlassen, in dem sie von den hingebungsvollen Nonnen gepflegt und
geheilt wurden. Sobald die Menschen gesund waren, erhielten sie wieder den
Schlaftrunk und wurden in das Haupthaus überstellt. Wenn sie aus dem tiefen
Schlaf erwachten, durften sie das Kloster verlassen. Auf alles Nachfragen
konnten sie nur angeben, dass sie die Tage in einem Krankenzimmer verbracht
hatten, während die Nonnen für ihr Heil und Wohl hingebungsvoll gebetet hatten.
In den letzten Jahren waren
die Schwestern auch zu Expertinnen der geistigen Heilung und der Heilung durch
tiefe Gespräche geworden. Ihre hingebungsvollen Forschungen hatten die Leiterin
dieses geheimen Klosters zu einer Meisterin der Rituale, Gebete und Gespräche
gemacht, um Menschen an ihren wahren Kern zu erinnern. Diese Erkenntnis
unterstützte den Heilungsprozess der Betroffenen in hohem Maße. Auch für Tarita
war dies die Medizin, die ihr erlaubte, in sich selbst Würde, Liebe und Größe
zu erkennen. Die Wunden ihres Mädchenlebens heilten. Doch ihre Puppe trug sie
weiterhin in eigens an die Röcke aufgenähten Taschen.
Tarita blieb viele Jahre in
der geheimen Außenstelle und lebte mit den Schwestern wie eine von ihnen. Sie
erweiterte ihr Wissen und teilte mit den Nonnen, was sie von der weisen Frau
gelernt hatte. Hier im Kreis der Frauen fühlte sich Tarita zum ersten Mal im
Leben sicher und geborgen: Ihr Wesen wurde nicht nur gesehen und erkannt,
sondern sie wurde auch für ihr Sein und ihre Weisheit geschätzt. Sie wurde
schnell zu einer besonderen Meisterin der geistigen Heilung, da sie seit ihren
Kindheitsjahren im Apfelbaum mit der unsichtbaren Welt sehr vertraut war.
Über die Jahre entdeckte
Tarita in sich ihre persönliche Gabe: Wenn sie einem Menschen tief in die Augen
sah, konnte sie hinter die Fassade sehen, das wahre Wesen dieses Menschen
erkennen, in den Spiegel der Seele blicken. Genau das, was ihr schon als Kind
so sehr gefehlt hatte, entpuppte sich als ihr Geschenk an die Menschen: das
wahre Wesen zu sehen und zu erkennen. Wem immer sie dieses Geschenk zuteil
werden ließ, gesundete rasch, weil Tarita die Menschen unterstützte, sich wieder
mit ihrer Seele zu verbinden.
An einem schönen Sommertag war
Tarita im Wald unterwegs, um Einbeeren für eine Tinktur zu sammeln, als sie einem
herrenlosen Pferd begegnete. Sie wusste sofort, dass dies das Pferd war, von
dem ihre Großväter vor Jahren im Fiebertraum erzählt hatten. Nur kurz zögerte
sie, dann näherte sie sich dem Gaul, der sie freundlich begrüßte. Tarita stieg
auf und das kräftige Tier begann zu traben.
Nach vielen Stunden der
Reise, die das Pferd überhaupt nicht zu ermüden schien, erreichten sie eine
steile Gebirgskette. Am Fuße des ersten Berges wartete bereits ein großer Adler
auf sie. Es bedurfte keiner Worte: Tarita stieg vom Pferd, bedankte sich für
seine Dienste und wechselte auf den Rücken des Adlers.
Kaum war sie aufgestiegen, erhob
sich der mächtige Vogel in die Lüfte und gewann mit seinen kräftigen
Flügelschlägen rasch an Höhe. Tarita fror in der Kühle der Bergluft, doch sie
konnte ihre Arme, ihr Gesicht und ihre Beine im weichen Gefieder des Adlers
wärmen.
Auf der anderen Seite der
Gebirgskette angekommen, schien der Adler nicht ein bisschen ermüdet zu sein.
Voll Anmut landete er mit seiner wertvollen Fracht am Fuße einer steilen
Klippe. Wieder stieg Tarita wortlos ab, bedankte sich bei dem Vogel für seine
Dienste und schritt ins Meer, wo bereits ein Delphin auf sie wartete.
Hui, der Ritt auf dem Delphin
war verspielt und hurtig – gespickt mit lustigen Sprüngen aus dem Wasser in die
Luft. Tarita musste lachen und spürte seit langer Zeit zum ersten Mal wieder,
wie sich ihr Herz in verspielter Freude öffnete und jubilierte. Am Sandstrand
einer wunderschönen grünen Insel ließ der Delphin die Frau absteigen, sie
bedankte sich für seine Dienste und entdeckte sofort ihre nächste Begleiterin:
eine große behäbige Schildkröte.
Die Schildkröte war Taritas
Lehrerin in Geduld und Gelassenheit. "Gut Ding braucht Weile," dachte
sich die junge Frau, denn sie hatte gelernt, dass sie auf ihrer Reise nichts
erzwingen konnte. Ihr weiblicher Weg war geprägt von Vertrauen in den Fluss des
Lebens, der sich wie ein Farn Blatt um Blatt entfaltete.
Nach vielen Sonnenuntergängen
und durchwanderten Nächten kamen Tarita und ihre Begleiterin bei Sonnenaufgang
an einem Mäuerchen an. Die Schildkröte stupste vorsichtig mit ihrer Nase gegen einen
der Steine, der sich aus der Mauer löste und so den Zugang zu einem kleinen
Versteck frei gab. Tarita entdeckte darin eine Schriftrolle, die eine Botschaft
für sie enthielt:
Was für ein wundersames
Vermächtnis! Auf dieser saftig grünen Insel mit dem milden Klima hatte sie nun
ein riesiges Grundstück zur Verfügung, mit dem sie tun und lassen konnte, wie
es ihr beliebte. Welch ein Geschenk!
Als sich Tarita bei der
Schildkröte für ihre Begleitung bedanken wollte, bedeutete diese ihr, dass sie
bei ihr bleiben und ihr beim Aufbau ihrer eigenen Welt behilflich sein würde.
Denn die besondere Gabe der Schildkröte war es, Dinge aus der unsichtbaren Welt
auf die Erde zu bringen und hier gut zu verwurzeln.
Voll Tatendrang begann Tarita
ihr Reich ganz nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Mit der Hilfe der
Schildkröte baute sie zuerst ein Häuschen für sich, ihre wundersame Gefährtin
und die kleine Puppe, die nun aus der Rocktasche in eine kleine Wandnische oberhalb
von Taritas Bett wanderte. Dies war das pulsierende kraftvolle Zentrum ihres
Reiches, denn hier entstanden in Zwiegesprächen mit sichtbaren und unsichtbaren
Wesen all die Ideen und Planungen für die Welt des Wohlwollens.
Morgens bei Sonnenaufgang führte
Tarita ihr tägliches Ritual durch, in dem sie für all die Geschenke ihres
Lebens dankte und um Unterstützung für ihr Vorhaben bat. Bei den geheimen
Schwestern hatte sie gelernt, wie wichtig es bei der Umsetzung neuer Vorhaben
war, Dankbarkeit für das Bestehende zu kultivieren.
Als Tarita begann, innerhalb
des Mäuerchens einen Kräutergarten anzulegen, bekam sie Gesellschaft von einigen
Frauen der Insel, die neugierig bei ihrer neuen Nachbarin vorbeikamen. Tarita
erzählte ihnen voller Begeisterung von ihrem Plan, eine Welt des Wohlwollens
aufzubauen. Sie schwärmte den Frauen vor, wie wunderschön es in diesem Reich werde,
wo alle Menschen sich offen und ehrlich in Wohlwollen begegneten. In den
schönsten Farben malte sie die Vision aus, wie alle Menschen aufblühten, wenn sie
bestärkt und unterstützt würden, ihr ureigenes Sein zu zeigen und zu leben. Sie
verdeutlichte, wie wichtig es sein würde, andere Menschen nicht zu unterdrücken
oder zu beschämen, sondern die Einzigartigkeit jedes Individuums zu würdigen
und zu feiern. Tarita betonte besonders, dass jedes Wesen ganz individuelle
Geschenke in dieses irdische Leben mitgebracht hatte, die es nun in die Welt zu
bringen gelte.
Die Frauen waren Feuer und
Flamme für diese Vision, für diese neue Welt des Wohlwollens. Sie versprachen,
wieder zu kommen und Tarita beim Aufbau dieses Reiches behilflich zu sein.
Tatsächlich erschienen sie von nun an, sooft sie nur konnten, um Tarita zu
unterstützen. So manche brachte ihre Kinder mit und es ging lustig zu. Die
Frauen arbeiteten voll Freude, sangen gemeinsam, erzählten sich die Geschichten
ihres Lebens, berieten einander bei Schwierigkeiten und lachten aus der Tiefe
ihres Bauches heraus.
In den Begegnungen mit den
Frauen drückte Tarita ihre Wertschätzung für die ganz persönlichen Fähigkeiten
jeder einzelnen aus. Bewusst setzte sie ihre Gabe ein, das wahre Wesen in den
Augen der Menschen zu sehen und zu erkennen. Dadurch entstand in diesem Kreis der
Frauen eine tiefe Verbindung und die Kinder blühten in ihrer unbeschwerten
Unbekümmertheit auf.
Den Männern der Insel war
diese neue Wendung ein Dorn im Auge. Wieso war es ihren Frauen plötzlich so
wichtig, einer Wildfremden bei der Arbeit zu helfen, wo es doch im eigenen
Anwesen genug zu tun gab? Eines Abends fasste sich einer der Männer ein Herz
und passte die Frauen auf ihrem Heimweg ab. Er fragte sie: "Was ist euch
an dieser Fremden so wichtig, dass ihr eure gewohnte Umgebung freiwillig verlasst?"
Erst waren die Frauen
stutzig. In ihrer Begeisterung hatten sie gar nicht bemerkt, dass sich ihre
Familien vernachlässigt fühlten. Doch bereitwillig erzählten sie dem Mann von
Taritas Vision. Sie sagten ihm auch, wie groß die Sehnsucht in ihrem eigenen
Herzen war, solch eine Welt des Wohlwollens aufzubauen und zu erschaffen. Sie
hatten die Welt der Beschämung und der Unterdrückung so satt. Sie wollten sich
voll Freude als die zeigen, die sie tief drinnen waren. Sie wollten sich nicht
mehr hinter Fassaden und Masken verstecken. Sie wollten ihre Einzigartigkeit
leben und sich gegenseitig dabei unterstützen. Denn sie wussten, dass das Leben
viel einfacher sein würde, wenn Menschen zusammenhelfen statt sich gegenseitig
zu verachten, wenn Menschen sich gegenseitig feiern statt nach Wegen der
Unterdrückung zu suchen.
Als die Frauen so ins
Schwärmen gerieten, wurde dem Mann ganz warm ums Herz. Er spürte, dass in
seinem Herzen eine ähnliche Sehnsucht wohnte, er konnte die Frauen gut
verstehen. So versprach er, den anderen Männern davon zu erzählen und ihnen von
diesem besonderen Vorhaben zu berichten, das auf ihrer Insel bald Wirklichkeit
werden sollte.
Hatte die Schildkröte ihre
Zauberkraft wirken lassen? War ein Wunder geschehen? Oder war die Zeit einfach
reif geworden für die Welt des Wohlwollens? Auf jeden Fall waren die anderen
Männer innerhalb kürzester Zeit überzeugt von der neuen Idee und sagten
ebenfalls ihre Unterstützung zu.
Als sie am nächsten Tag an
das Mäuerchen rund um die Welt des Wohlwollens kamen, wartete Tarita bereits auf
sie. Sie begrüßte jeden Mann einzeln, dankte ihm für die Unterstützung und
blickte ihm tief in die Augen. Jeder von ihnen erhielt das Geschenk, in seiner
Einzigartigkeit gesehen und erkannt zu werden. Da schmolzen die Panzer um so
manches Herz.
Die Welt des Wohlwollens
wuchs nun rasch mit so vielen Händen, die anpackten, mit so vielen Hirnen, die
mitdachten, mit so vielen Herzen, die mitfühlten und mitfieberten. Es
entstanden Gebäude und Gärten, die auf Taritas Weisung hin kreisförmig
angeordnet und angelegt wurden. Denn sie hatte einen Traum gehabt, in dem sie
gesehen hatte, dass die grundlegende Architektur der Welt des Wohlwollen aus überlappenden
Kreisen bestand: So waren alle miteinander verbunden und in Beziehung.
Bald wurde das Mäuerchen rund
um Taritas Grundstück verschoben, damit mehr Platz zur Verfügung stand. Nach
und nach verlegten die Familien ihren Wohnsitz in die Welt des Wohlwollens,
deren Mittelpunkt weiterhin Taritas Häuschen war. Inzwischen hatte sie einen heiligen
Raum errichtet, in dem sie nicht mehr alleine ihre Rituale durchführte, sondern
in der Gemeinschaft mit den anderen Dankbarkeit ausdrückte und Gebete sprach.
Tarita begann, im Haus der
Weisheit ihr Wissen über Kräuter und geistige Heilung mit anderen zu teilen.
Sie lud die Weisen der Insel ein, ebenfalls ihre Schätze in die Kreise
einzubringen. Je mehr die Menschen der Gemeinschaft in Verbindung mit ihrem
wahren Wesen kamen, umso mehr Zugang hatten sie zu ihrer inneren Weisheit.
Tarita ermutigte sie alle, dieses von innen heraus strömende Wissen miteinander
zu teilen und zu feiern.
So lernten die Menschen sehr
rasch voneinander, die Gemeinschaft erlebte eine rasante Entwicklung, von der
alle Beteiligten profitierten. Die Welt des Wohlwollens bekam eine starke
Ausstrahlung, sodass sich ihr einzigartiger Ruf wie ein Lauffeuer verbreitete.
Bald kamen Menschen von überall her, um Teil dieser Gemeinschaft zu werden.
Tarita begrüßte jede Person einzeln am Eingang. Sie segnete die Menschen und blickte
ihnen so tief in die Augen, dass sie ihr wahres Wesen sehen und erkennen konnte.
Über die Jahre wurde die Welt
des Wohlwollens zu einer Pilgerstätte für Menschen von nah und fern, die sich
nach körperlicher, geistiger, emotionaler oder seelischer Gesundheit sehnten.
Viele kamen in die Welt des Wohlwollens, wenn unter Taritas Leitung die großen
Feste des Jahreskreises gefeiert wurden. Wohlwollen schien ansteckend zu sein:
Die Menschen verließen diesen Ort fröhlicher, glücklicher und gesünder, als sie
gekommen waren.
Taritas Reich erblühte und der
Ruf strahlte weit in die Welt hinaus: Hier wurden die Geschenke der Menschen
geehrt und gewürdigt. In Taritas Reich blühten die Menschen auf und wuchsen
über sich selbst hinaus.
... und wenn sie nicht
gestorben sind, dann blühen sie noch heute.
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